7. Januar 05
Dessau in Sachsen-Anhalt. Die
Polizei wird in die Turmstraße gerufen, weil Frauen der Stadtreinigung sich
durch einen unentwegt auf sie einredenden alkoholisierten Mann gestört
fühlen, der sie bittet, ihr Handy benutzen zu dürfen. Obwohl er sich
ausweisen kann, muß er von den Polizisten erfahren, daß er vorläufig
festgenommen ist – vorgeblich können sie seine Papiere nicht lesen. Es ist
Oury Jalloh, abgelehnter Asylbewerber aus Sierra Leone.
Um
8.30 Uhr treffen die Beamten mit ihm im Revier ein, wo ihm Hand- und
Fußschellen angelegt werden. Zur Blutentnahme durch einen gerufenen Arzt wird
er zusätzlich auf der Untersuchungsliege fixiert. Dann bringen die Beamten
ihn in die im Keller gelegene Zelle 5 und befestigen die Arme und Beine mit
Handschellen an Metallgriffen, die seitlich der Matratze in Wand und Boden
eingelassen sind.
Der
Festgenommene sei zu seinem "eigenen
Schutz" so fixiert worden, wird es später heißen. Da bei einem mit 2,68
‰ im Blut (im Urin 3,42 ‰) stark betrunkenen und in Rückenlage fixierten Mann
die Gefahr besteht, an Erbrochenem zu ersticken, stellt diese
Fesselungsart eher eine Gefährdung als einen Schutz dar.
Nach vorläufigen
Untersuchungsergebnissen der Staatsanwaltschaft Dessau stellt sich der Ablauf
der nun eintretenden Geschehnisse folgendermaßen dar: Um 12.00 Uhr stellt der Dienstgruppenleiter
Andreas S. die Wechselsprechanlage zur Zelle 5 leise, weil er sich durch Rufe
aus der Zelle beim Telefonieren gestört fühlt. Eine Kollegin dreht den
Schalter jedoch wieder auf "laut", so daß die akustische Verbindung
zwischen Dienstzimmer und Zelle nur kurz unterbrochen ist. Zwischen 12.04 Uhr
und 12.09 Uhr nehmen sowohl Andreas S. als auch seine Kollegin
"plätschernde" Geräusche wahr und hören den Alarm vom Rauchmelder.
Der Dienstgruppenleiter schaltet diesen Alarm aus. Das
"plätschernde" Geräusch im Lautsprecher der Gegensprechanlage wird
lauter, der Rauchmelder schlägt erneut an, und die Rufe von Oury Jalloh sind
deutlich zu hören. Während der Dienststellenleiter den Alarmknopf zum zweiten
Mal ausstellt, informiert seine Kollegin die Verwaltung über den Alarm. Erst
als auch der Rauchmelder im Lüftungsschacht Alarm
schlägt, verläßt Andreas S. sein Dienstzimmer, sucht sich im Pausenraum noch
Kollegen und begibt sich dann in den Kellerbereich. Seine Kollegin,
die an der Wechselsprechanlage bleibt, hört jetzt deutlich aus der Zelle die
Rufe "Mach mich los, Feuer" und das klappernde Geräusch von
Schlüsseln, die das Zellenschloß öffnen. Die Polizisten betreten die Zelle
allerdings nicht, weil – wie sie später aussagen – die Rauchentwicklung zu
stark war.
Den
Feuerwehrleuten, die durch den Notruf "Brand im Zellentrakt – eine
Person vermißt" alarmiert wurden, wird weder die Zellennummer mitgeteilt
noch wird ihnen gesagt, daß Oury Jalloh an die Pritsche gefesselt ist. Und so
kommt es, daß sie nach intensiver minutenlanger Suche im schwarzen Qualm des
Zellentraktes niemanden finden – und erst bei der wiederholten Suche den
brennenden Leichnam Oury Jallohs ausmachen können – 15 Minuten nach dem
Eintreffen.
Auszüge
aus Telefonmitschnitten auf dem Polizeirevier
Dessau am
7. Januar 05:
Gespräch vom
Dienststellenleiter Andreas S. und dem Arzt Dr. B.: "Pikste mal 'nen
Schwarzafrikaner?" Antwort des Arztes: "Ach du Scheiße".
"Da finde ich immer keine Vene bei den Dunkelhäutigen", Lachen. Der
Polizist: "Na, bring doch 'ne Spezialkanüle mit." "Mach
ich", sagt der Arzt.
Gespräch
zwischen zwei Polizeibeamten, als bekannt ist, daß Feueralarm ausgelöst ist:
"Hat er
sich aufgehangen, oder was?" "Nee, da brennt's."
"Wieso?" "Weiß ich nicht. Die sind da runtergekommen, da war
alles schwarzer Qualm." "Ja, ich hätte fast gesagt gut. Alles klar,
schönes Wochenende, ciao, ciao."
Oury
Jalloh hatte als Asylbewerber in dem 5 km von Dessau entfernt liegenden
Flüchtlingsheim in Roßlau gelebt. Er wurde Vater eines Sohnes, den er
allerdings nur am Tag der Geburt in den Arm nehmen konnte, weil seine
deutsche Freundin auf Druck der Eltern das Kind zur Adoption freigeben mußte.
Seither hatte Oury Jalloh um sein Kind gekämpft. Ein Freund sagte gegenüber
Journalisten: "Oury ist dreimal gestorben. Im Bürgerkrieg in Sierra
Leone starb seine Vergangenheit. Als Asylbewerber in Deutschland starb seine
Zukunft, und in einer Zelle in Dessau kam er ums Leben."
Der
Verbrennungstod des 24-jährigen Oury Jalloh wirft viele Fragen auf, und die
Brandursache sowie die weiteren Umstände sind auch ein Jahr später nicht
aufgeklärt. Die von Anfang an durch die Polizei proklamierte Selbsttötungstheorie
wird durch viele auftretende Widersprüche zerrüttet. Oury Jalloh war von zwei
Polizisten gründlich durchsucht worden – sie hatten ein Handy, eine
Brieftasche und ein gebrauchtes Papiertaschentuch sichergestellt. Sie sagten
auch aus, daß die Durchsuchung so gründlich war, daß sie ein Feuerzeug nicht
hätten übersehen können. Ein Feuerzeug oder Reste davon, das in einer
Asservatenliste am 11. Januar verzeichnet ist – in der Liste vom Vortag
allerdings noch nicht. Dieses Feuerzeug, so die Polizei und
Staatsanwaltschaft im Februar, soll der eng gefesselte und stark betrunkene
Mann irgendwo aus seiner Kleidung gefingert haben, dann die mit feuerfestem
Kunstleder überzogene Matratze angezündet, dann aufgerissen und die Innereien
herausgeholt haben, um letztlich alles zu entflammen.
Die
Obduktion am 10. Januar durch das Institut für Rechtsmedizin in Halle ergibt,
daß Oury Jalloh einem Hitzeschock erlegen ist: ein schlagartiger
Atemstillstand infolge der Einatmung heißer Dämpfe mit anschließendem Herzstillstand,
bei dem der Körper nach 2,5 Minuten auf bis zu 345 Grad Celsius erhitzt
wurde. Anzeichen äußerer Verletzungen werden bei dieser Untersuchung nicht
erkannt. Eine von den AnwältInnen geforderte Röntgenuntersuchung lehnt die
Staatsanwaltschaft als "nicht erforderlich" ab.
Eine
zweite Obduktion, die von UnterstützerInnen und AnwältInnen der Familie in
Auftrag gegeben wird, bestätigt die Todesursache. Jedoch wird hier – aufgrund
röntgenologischer Untersuchungen – zudem ein Nasenbeinbruch bei Herrn Jalloh
festgestellt.
Am
22. Januar organisieren Freunde und Freundinnen von Oury Jalloh eine
Trauerfeier und fordern durch eine Demonstration die restlose Aufklärung der
Vorgänge des 7. Januar. Allein durch den andauernden öffentlichen Druck sieht
sich die Staatsanwaltschaft genötigt, Widersprüche zuzugeben und die
Untersuchungen fortzuführen. So geschieht es, daß erst vier Wochen nach dem
Feuertod Jallohs bekannt wird, daß er in oben beschriebener Weise fixiert
war.
Bei
einer Dienststellenbesprechung der Polizeidirektion von Halle im Februar
kommentiert ein hochrangiger Beamter den Tod Oury Jallohs mit "Schwarze
brennen eben mal länger". Ein einziger Kollege nimmt Anstoß an der
Äußerung und meldet sie dem Polizeipräsidenten. Mit dem Ausspruch eines
Verweises endet das eingeleitete Disziplinarverfahren gegen den Urheber des
rassistischen Kommentars. Der Beamte, der den Vorfall meldete, sieht sich
hingegen durch Kollegen und Kolleginnen derart heftigen Anfeindungen ausgesetzt,
daß er seine Versetzung beantragt. Erst im Februar 2008 wird dieser Fall
bekannt.
Obwohl
die Stadt Dessau die Kosten der Überführung des Leichnams nach Guinea
übernimmt, damit Oury Jalloh in der Nähe der Eltern beigesetzt werden kann,
erhebt die Staatsanwaltschaft plötzlich Zweifel an der wahren Elternschaft.
Sollte diese nicht einwandfrei nachgewiesen werden können, dann wäre eine
Nebenklage nicht zulässig und die RechtsanwältInnen vom weiteren Verfahren
ausgeschlossen. Mouctar Bah, ein enger Freund Oury Jallohs, fliegt nach
Guinea und sucht die Eltern auf, die – obwohl durch den Bürgerkrieg in
Sierra Leone vertrieben und in
weit auseinander liegenden Dörfern getrennt lebend – die Geburtsurkunde Oury
Jallohs finden und Mouctar Bah mitgeben können.
Anfang
Juni hat die Staatsanwaltschaft Dessau das gegen zwei am 7. Januar
diensthabende Polizisten geführte Ermittlungsverfahren mit der Erhebung einer
Anklageschrift wegen fahrlässiger Tötung, beziehungsweise Körperverletzung
mit Todesfolge abgeschlossen. Im Oktober 2005 lehnt das Gericht jedoch den
Prozeß-Start ab und fordert stichhaltigere Beweise für die Schuld der zwei
Polizeibeamten.
Die
Staatsanwaltschaft gibt ein Brandgutachten beim Feuertechnischen Institut in
Heyrothsberge bei Magdeburg in Auftrag. Dieses Gutachten, das am 30. Juli
2006 dem Landgericht Dessau vorgelegt wird, kommt zu dem Schluß, daß vom
Ausbruch des Feuers bis zum Tod Oury Jallohs etwa sechs Minuten Zeit
verstrichen. Genügend Zeit, das Leben des Gefangenen zu retten, wenn die Beamten
richtig gehandelt hätten.
Im
November 2006 lehnt das Landgericht Dessau den Prozeß gegen die beiden
Polizeibeamten wiederum ab. Begründung: fehlender hinreichender Tatverdacht.
Bezüglich des Verfahrens gegen den Dienstgruppenführer sollen noch
"ergänzende Fragen" durch die Brandgutachter beantwortet werden.
Im
Januar 2007, fast auf den Tag zwei Jahre nach dem Tod von Oury Jalloh, läßt
die 6. Strafkammer des Landgerichtes Dessau die Anklage gegen den 46-jährigen
Dienstgruppenleiter schließlich zu. Ausschlaggebend dafür sind die Ergebnisse
der Nachermittlungen der Staatsanwaltschaft.
Am
27. März 07 wird der Prozeß gegen die beiden Beamten eröffnet. Während dem
Dienstgruppenleiter Körperverletzung mit Todesfolge vorgeworfen wird, sieht
sich sein Kollege der Anklage wegen fahrlässiger Tötung gegenüber, weil er
bei der Durchsuchung Oury Jallohs das Feuerzeug übersehen haben soll.
Die
Polizistin, deren Aussage den Dienstgruppenleiter Andereas S. maßgeblich
belastet hatte, wurde nach dem 7. Januar 2005 aus "Fürsorgepflicht"
(psychische Probleme) zwangsversetzt. Vor Gericht relativiert sie nun ihre
ursprüngliche Aussage. Ihrer Beschreibung nach sei ihr Kollege und
Vorgesetzter nach dem ersten Alarm schon "auf dem Sprung" gewesen;
beim zweiten Alarm habe sie ihn im Raum "definitiv nicht gesehen".
Sie räumt allerdings ein, daß sie mit dem "Rücken zur Tür" gesessen
habe und es "unmöglich zu sehen" gewesen sei, "wann er rein
und raus gegangen ist". Gegen die Beamtin wird ein Ermittlungsverfahren
wegen Falschaussage eingeleitet.
Am
10. Verhandlungstag äußert der Vorsitzende Richter Manfred Steinhoff
deutliche Zweifel am Wahrheitsgehalt der Aussagen der BeamtInnen: Zumindest
einer der ZeugInnen müsse bewußt falsch ausgesagt haben, um den
Hauptangeklagten zu schützen. "Ich werde den Prozeß in Grund und Boden
verhandeln, ich werde notfalls jeden Zeugen zehnmal vorladen."
Ein
Beamter, der sich bisher nicht erinnern konnte, macht daraufhin
detailliertere Angaben, die im deutlichen Widerspruch zu den Aussagen des
Hauptangeklagten stehen.
Durch
anhaltende Proteste, Demonstrationen, Info- und Gedenkveranstaltungen sind
die Geschehnisse um den Tod von Oury Jalloh international bekannt geworden.
Eine Gruppe von ProzeßbeobachterInnen aus verschiedenen Ländern begleitet das
Verfahren.
Nach
58 Verhandlungstagen ergeht am 8. Dezember 2008 ein Urteil, in dem die beiden
angeklagten Polizeibeamten freigesprochen werden. "Trotz aller
Bemühungen ist dieses Verfahren gescheitert", stellt der Vorsitzende Richter
fest. Die Polizei von Dessau habe durch ihr Versteckspiel und ihre
schlampigen Ermittlungen die Offenlegung der tatsächlichen Geschehnisse vom
7. Januar 05 unmöglich gemacht und "dem Rechtsstaat geschadet".
Nach der Urteilsverkündung kommt es zu Tumulten im Gerichtssaal. Kurz darauf
legen Staatsanwaltschaft und die Vertreter der Nebenklage Revision beim
Bundesgerichtshof ein.
Am
7. Januar 2010, dem fünften Todestag von Oury Jalloh, hebt der Strafsenat des
Bundesgerichtshofes in Karlsruhe das Dessauer Urteil auf und verweist das
Verfahren zur Neuverhandlung an das Landgericht Magdeburg. Die Vorsitzende
Richterin Ingeborg Tepperwien mahnte im Wesentlichen vier Lücken und
Ungereimtheiten an, die in einem neuen Verfahren aufzuklären seien. Neben den
Fragen, wann der Rauchmelder Alarm schlug, warum die Schmerzensschreie von
Oury Jalloh nicht gehört wurden, wann der Dienststellenleiter wirklich in den
Kellertrakt hinuntergegangen ist, stellt das Gericht die wesentliche Frage,
"ob und wie es Jalloh möglich gewesen sein soll, den Brand zu
legen".
Bemerkenswert
ist das Verhalten der Dessauer Polizei Mouctar Bah, dem Freund Oury Jallohs,
gegenüber. Dieser Mann hat sich seit dem 7. Januar 05 für die Aufklärung der
Geschehnisse im Dessauer Polizeikeller eingesetzt und Gerechtigkeit und
Entschädigung gefordert. Er hatte die Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh
mitgegründet und geriet zunehmend unter behördlichen Druck. Mehrere
Ermittlungsverfahren wegen angeblicher Beleidigung wurden geführt und wieder
eingestellt. Ende 2005 wurde ihm unter fadenscheinigen Gründen die
Gewerbelizenz für seinen Telefonladen entzogen. Er konnte fortan nur noch als
Angestellter in seinem eigenen Laden arbeiten. Am 21. Juli 09 muß er eine
großangelegte Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen. Im Laden finden
zunehmend häufiger Razzien und Kontrollen statt.
So
auch gezielt am 16. Dezember 09, als sich Herr Bah mit Freunden in
Vorbereitung zur Fahrt nach Karlsruhe befindet, wo am nächsten Tag der
Bundesgerichtshof über die Zulassung der Revision im Verfahren Oury Jalloh
entscheiden soll. Gegen 14.00 Uhr stürmen Polizisten den Laden, kontrollieren
die anwesenden Personen – auch alle Angestellten – durchsuchen vier Stunden
lang ohne richterlichen Beschluß die Räumlichkeiten und verschwinden wieder,
ohne ein Durchsuchungsprotokoll zu hinterlassen. Begründet wird diese
Polizei-Aktion von einem der Beamten, der meint, daß nach dem neuen
Polizeigesetz "verrufene und verruchte Orte" auch ohne
richterlichen Beschluß durchsucht werden dürfen. Der Einsatzleiter war für
Mouctar Bah nicht erreichbar – er saß in seiner Dienststelle. Federführend
bei der Aktion war der Staatsanwalt Christian Preissner, der im Fall Oury
Jalloh die Anklage erhoben hat und nur in Richtung Selbsttötung ermitteln
ließ. Die Polizei läßt verlauten, daß die Durchsuchung des Ladens im Rahmen
einer Aktion wegen des Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz
stattgefunden habe.
Drei
Tage zuvor war Mouctar Bah von der Internationalen Liga für Menschenrechte
die Carl-von-Ossietzky-Medaille für sein couragiertes Handeln verliehen
worden.
Im
Februar 2010 entschuldigt sich der Präsident der Polizeidirektion
Sachsen-Anhalt Ost für die Razzia im Tele-Café, die er mittlerweile als
rechtswidrig bezeichnet.
Am
8. Oktober 10 werden zwei schwarze Aktivisten der Initiative zum Gedenken an
Oury Jalloh unmittelbar nach einer Informationsveranstaltung in Magdeburg von
der Polizei "kontrolliert". Das Auto, das sie zum Bahnhof bringt,
wird gestoppt, und sie werden durch die Taschenlampen der Beamten
ausgeleuchtet und in barschem Ton aufgefordert, sich auszuweisen. Die weiße
Fahrerin des Wagens, die auch Mitglied in der Initiative ist, bleibt völlig
unbehelligt. Im Hinblick auf den Oury-Jalloh-Prozeß äußern die beiden
Beamten, daß ihre "beiden Kollegen" sowieso nie verurteilt würden.
Als nach ihren Dienstnummern gefragt wird, lügen sie, indem sie behaupten,
daß Beamte in der Bundesrepublik gar keine Dienstnummern hätten.
Am
12. Januar 11 beginnt das Verfahren auf Weisung des Bundesgerichtshofes vor
der 1. großen Strafkammer des Landgerichts Magdeburg. 21 Verhandlungstage
sind geplant.
Während
einer Demonstration von ca. 80 Personen im Anschluß an die
Gerichtsverhandlung am 19. Mai 11 wird der Aktivist der Initiative in
Gedenken an Oury Jalloh, Komi E., von der Beifahrerin eines vorbeifahrenden
Autos bespuckt. Gegen Ende der Demonstration wird eine Anzeige gegen die
Täterin erstattet. (siehe auch 30. November 04)
Am
11. August 11 kommt es im Gerichtssaal zu einer Festnahme von drei
Prozeßbeobachtern – unter ihnen auch Mouctar Bah. Nach der Abspielung einer
Videoaufnahme, auf der mit Mühen und Nachhelfen die
"Selbstmordthese" nachgestellt wurde, haben die Drei spontane
Unmutsbekundungen geäußert, so daß die Richterin umgehend und unter Polizeiverstärkung
deren Personalien feststellen lassen will. Als diese sich weigern, werden sie
mit Gewalt in Handschellen gelegt – Mouctar Bah von sechs bis acht Beamten zu
Boden gedrückt – und festgenommen. Herr Bah erleidet durch das Gewicht der
auf ihm knieenden Beamten eine schwere Prellung am Oberschenkel.
Am Vorabend der Gedenk-Demonstration zum 7.
Todestag Oury Jallohs erscheinen Polizeibeamte bei dem Anmelder der
Demonstration, Mouctar Bah, und weisen ihn darauf hin, daß der Ausspruch
"Oury Jalloh – Das war Mord" auf Transparenten nicht zugelassen
sei. Unter diesem Vorwand werden am nächsten Tag ankommende DemonstrantInnen
bereits am Bahnhof von den in Kampfmontur auftretenden Staatsdienern
schikaniert, geschubst und geschlagen. Auch während der Demonstration, an der
250 Demonstrierende 200 Polizisten gegenüberstehen, versuchen die Beamten
immer wieder mit Gewalt, Transparente mit angeblich verbotenen Parolen zu
beschlagnahmen. Vor allem Sprecher der schwarzen Community sind Ziele der
Gewaltattacken.
Nach der Abschlußkundgebung am Dessauer Bahnhof
versucht die Polizei erneut, Transparente zu beschlagnahmen, und geht dabei
mit brutalen Methoden gegen die DemonstrationsteilnehmerInnen vor.
Durch den beabsichtigten Kopfstoß eines
behelmten Beamten und eine Pfefferspray-Attacke direkt ins Gesicht bricht
Mouctar Bah bewußtlos zusammen. Auch Komi Edzo, ein Aktivist der Initiative
zum Gedenken an Oury-Jalloh, wird durch das Reizgas in akute Atemnot versetzt
und bewußtlos. Beide kommen mit Notarztwagen ins Krankenhaus. Insgesamt
werden ca. 30 Verletzte gezählt – unter ihnen auch ein Arzt und ein Fotograf.
Im Januar 2012 – nach über 40 Gerichtstagen –
wird deutlich, daß auch diese Kammer die
"Selbstentzündungshypothese" einseitig verfolgt, obwohl inzwischen
nicht wenige Zeugenaussagen als Lügen nachgewiesen wurden, obwohl
nachgewiesen ist, daß entscheidende Beweismittel vernichtet wurden, obwohl
wichtige Dokumente, die die Staatsanwaltschaft hätte sichern müssen,
unwiederbringlich verschwanden. So z.B. Protokolle der Vernehmung von
Polizeibeamten des Dessauer Reviers, das Fahrtenbuch der Beamten, die Oury
Jalloh festnahmen, Dienstbuch- und Journaleinträge, Video-Dokumentationen des
toten Oury Jalloh u.a.
So öffnete der Hausmeister des Reviers
widerrechtlich die von der Spurensicherung versiegelte Zelle Nr. 5, löste die
Fessel, an der Oury Jalloh mit der rechten Hand fixiert war, mit einem
Bolzenschneider von der Wand und entsorgte sie. Dabei handelte er auf
Anweisung seines Vorgesetzten – dieser wurde aber zu diesem Vorgang nicht
mehr vernommen.
So ist die Wahrscheinlichkeit hoch, daß die
ursprünglich luftdicht verschlossenen Aluminiumtüten mit Ascheresten wieder
geöffnet wurden, so daß Reste eines möglichen Brandbeschleunigers nicht mehr
zu finden sind.
BelastungszeugInnen wurden ausgegrenzt, gemobbt,
dienstlich versetzt oder öffentlich als unglaubwürdig erklärt. Es ist auch
bekannt, daß Oberregierungsrat Georg Findeisen Polizeiangehörige vor
Zeugenvernehmungen auf Versammlungen und bei Einzelberatungen auf ihre Aufgabe
"vorbereitete".
Als die Richterin Claudia Methling im März 2012
versucht, den Prozeß mit der Einstellung des Verfahrens gegen Geldauflagen
vorfristig zu beenden, stellt die Nebenklage wegen Untätigkeit und mangelnden
Aufklärungswillens einen Befangenheitsantrag gegen die gesamte Kammer. Dieser
wird zwar abgelehnt, jedoch ein neues Brandschutz-Gutachten in Auftrag gegeben.
Das Feuerzeug, mit dem sich Oury Jalloh
angeblich selbst angezündet haben soll, wird auf DNA- und Textilspuren
untersucht. Die Sachverständige Jana Schmechtig vom Landeskriminalamt (LKA)
findet Spuren von Polyesterfasern, die weder mit der Kleidung von Oury
Jalloh, noch mit denen der Matratze übereinstimmen. Zum wiederholten Male
wird die Selbstmordthese selbst innerhalb des Gerichts in Frage gestellt.
Zu diesem Zeitpunkt ist die Mutter von Oury
Jalloh, Mariama Djombo Dialla, im Prozess anwesend. Besonders bemerkenswert
ist der Auftritt der ehemaligen
Polizeipräsidentin der Dessauer Polizeidirektion Ost, Brigitte
Scherber-Schmidt, als Zeugin der Nebenklage, die sich nicht erinnern kann
oder sich nicht verantwortlich fühlt. Sie bestreitet auch ihre Verantwortung
unter anderem für einen internen Brief an alle MitarbeiterInnen der
Polizeistation kurz nach den Ereignissen am 7. Januar, der den
chronologischen Ablauf des Tages als Selbstmord darstellte. Dieser Bericht
war vor Veröffentlichung an ihre Faxadresse gesendet und abgezeichnet worden.
Am letzten Prozeßtag, an dem Mariama Djombo
Dialla teilnimmt, gibt sie eine Erklärung ab. In dieser vergleicht sie den
Prozeß mit den bunten Perlen, die seinerzeit die weißen Kolonialisten den
afrikanischen Menschen schenkten, um sie und ihr Land für ihre Interessen zu
kaufen. Die Weißen hätten ihr Land genommen, den Krieg gebracht und jetzt ihren
Sohn getötet. Sie aber möchte nicht Rache, sondern nicht mehr als die
Wahrheit. Nur wenige Tage nach ihrer Rückkehr nach Guinea stirbt Mariama
Djombo Dialla am 23. Juli 2013 an Herzversagen.
Am 13. Dezember 2012 – nach 66 Verhandlungstagen
und fast 2 Jahren Prozeßdauer – wird der damalige Dienstgruppenleiter Andreas
Schubert vom Landgericht Magdeburg wegen fahrlässiger Tötung zu 120
Tagessätzen à 90 Euro verurteilt. Beide Seiten legen Revision ein.
Damit sind die tatsächlichen Umstände des Todes
von Oury Jalloh weiterhin nicht aufgeklärt.
Am 10. Dezember 13 soll der Prozeß gegen Mouctar
Bah wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte stattfinden. Es geht um die
Beamten, die ihn auf der Demonstration vom 7. Januar 12 bewußtlos und
krankenhausreif geschlagen hatten. Nach seinem Einspruch gegen den
Strafbefehl über die Summe von 50 Tagessätzen sollte das Verfahren vor
Gericht verhandelt werden. Das Amtsgericht Dessau vertagt auf unbestimmte
Zeit, weil die von der Staatsanwaltschaft eingereichten Unterlagen völlig
unzureichend sind, denn sie enthalten ausschließlich belastendes Material –
obwohl ermittelnde Behörden natürlich selbstverständlich auch entlastende
Belege einreichen müssen (z.B. Videoaufnahmen).
Da
die Gerichte die bisherigen Brandgutachten immer sehr eng formuliert
vorgegeben hatten (Fragestellung in etwa: "Wie war es möglich, daß Oury
Jalloh sich selbst anzünden konnte?"), beschießt die "Initiative in
Gedenken an Oury Jalloh" ein umfassenderes und unabhängiges Brandgutachten
erstellen zu lassen. Durch Spenden finanziert wird schließlich der
Brandsachverständige und Thermophysiker Maksim Smirnou aus Waterford (Irland)
beauftragt, Brandversuche nicht nur zur Brandentstehung, sondern vor allem
auch zum Brandverlauf durchzuführen und die Ergebnisse mit dem Brandbild in
der Dessauer Zelle zu vergleichen.
Ein
Polizeivideo, das kurz nach dem Feuer aufgenommen wurde, zeigt den Leichnam
von Oury Jalloh auf dem Rücken liegend bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Die
weißen Kacheln der Zelle sind durch schwarzen Ruß dunkel gefärbt – eine
Kachel ist geborsten.
Die
Fragestellung ist also: Was muß geschehen sein, damit ein menschlicher Körper
und eine feuerfeste Matratze nach einem Feuer so aussehen wie auf dem
dokumentierten Brandbild der Zelle 5 vom 7. Januar 2005?
In
einem Nachbau der Dessauer Zelle werden Schweinekadaver, die mit T-Shirts und
Jeans bekleidet sind, auf einer Matratze mit feuerfester PVC-Hülle
positioniert. Dann führt der Sachverständige Smirnou die unterschiedlichen
Brandversuche durch.
Der
Thermophysiker kommt zu dem Ergebnis, daß ausschließlich unter der Verwendung
von mindestens fünf Litern Benzin (Kanister?) und der großflächigen
Entfernung der feuerfesten Matratzenoberseite eine derartig explosive
Feuerentwicklung entstehen kann, die zu den schweren Verbrennungszeichen am
Opfer und im Raum geführt hat.
Diese
Tatsache und die sonstigen massenhaften Manipulationen an den Beweismitteln,
die gravierenden Ermittlungsfehler und Unterlassungen und die vielen
Widersprüche bei den Aussagen der BeamtInnen veranlassen die "Initiative
in Gedenken an Oury Jalloh" und einige Einzelpersonen dazu, am 12.
November eine Strafanzeige wegen Totschlags oder Mordes gegen unbekannte
Polizeibeamte im Todesfall Oury Jalloh beim Generalbundesanwalt Harald Range
zu stellen.
In
der Begründung heißt es unter anderem: "Wir wenden uns ..... an Sie,
weil es sich im vorliegenden Fall um eine besonders schwere Straftat mit
Bezug zur inneren Sicherheit und Verfaßtheit der Bundesrepublik Deutschland
handelt, da die zu ermittelnden Täter notwendigerweise exekutive Amtsträger
des Bundeslandes Sachsen-Anhalt sein müssen."
Am
11. Februar 14 weist der Generalbundesanwalt die Anzeige wegen
Nicht-Zuständigkeit an die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau zurück.
Strafverfolgung sei Sache der Bundesländer – Ausnahmen bestünden nur, wenn
die Tat den Bestand und die Sicherheit des Staates beeinträchtige.
In
Anbetracht der Tatsache, daß der Bundesgerichtshof (BGH) zur Zeit noch über
die Revisionen von Nebenklage, Staatsanwaltschaft und Verteidigung zum Urteil
gegen den Dienstgruppenleiter befindet, meint der bevollmächtigte Vertreter
des Generalbundesanwalts Matthias Krauß, daß das Urteil "nicht zu
beanstanden" sei.
...
Aktuelle Informationen findet ihr entweder über eure Suchmaschine oder unter
https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/
...
Aktuelle Informationen findet ihr entweder über eure Suchmaschine oder unter
https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/
Initiative zum Gedenken an Oury Jalloh;
Antirassistische Initiative Berlin;
Staatsanwaltschaft Dessau; VM 20.2.06; BeZ 31.3.06;
MDZ 5.6.06; VM 19.7.06; MDZ 28.7.06; VM 29.7.06; VM
31.7.06;
VM 8.9.06; AP 10.11.06; VM 20.11.06; VM 3.1.07;
taz 3.1.07; LVZ 3.1.07;
pr-inside.de 1.2.07; mdr.de 5.2.07;
jW 28.3.07; TS
29.7.07; WDR 28.8.07;
ap 31.10.07; ap
16.4.08; BM 29.5.08;
Spiegel 8.12.08; SZ 8.12.08; jW 10.12.08;
ddp 11.12.08; VM 13.12.08; MDZ 13.12.08;
ND 2.1.09; jW 8.1.09;
jW 5.3.09;
jW 8.7.09; mdr
17.7.09; taz 19.7.09; ND 24.7.09;
MDZ 10.11.09; ddp 16.12.09; FR 17.12.09;
ndr 7.1.10; dw 7.1.10; Pro Asyl 7.1.10;
VM
11.1.10; WSWS.org.de 14.1.10; jW 25.1.10;MDZ 16.2.10;
Pro Asyl März 2010; afp 5.10.10;
TS 7.1.11; MDZ 7.1.11; LVZ 11.1.11;
Spiegel 21.1.11; SD 21.1.11;
MDZ 11.2.11; MDZ 4.5.11; taz 4.5.11;
jW 13.8.11; MDZ 25.8.11; BeZ 4.9.11;
Newsletter No.3
Januar 2012;
jW 9.1.12; dpa
9.1.12;
MDZ 10.1.12;
Umbruch Bildarchiv 11.1.12;
ND 12.1.12; jW 16.1.12;
GWR 384 Dez.2013;
jW 7.12.13; MDZ 10.12.13;
jW 15.2.14;
Internationale Liga für Menschenrechte;
Komitee für Grundrechte und Demokratie